Nationalelf

Völler über USA-Reise: "Erster Reflex: Muss das jetzt sein?"

DFB-Sportdirektor im kicker-Interview

Völler über USA-Reise: "Mein allererster Reflex war auch: Muss das jetzt sein?"

Sprach mit dem kicker acht Monate vor der Heim-EM ausführlich über die Lage der Nationalmannschaft: Rudi Völler.

Sprach mit dem kicker acht Monate vor der Heim-EM ausführlich über die Lage der Nationalmannschaft: Rudi Völler. IMAGO/HMB-Media

Treffpunkt ist die BayArena, Rudi Völlers langjähriges Wohnzimmer. Das Gespräch mit dem DFB-Sportdirektor über die Lage der Nationalmannschaft acht Monate vor der Heim-EM, die erste Dienstreise des neuen Bundestrainers Julian Nagelsmann in dieser Woche und seine Rolle hat die Länge eines Fußballspiels - mit ordentlicher Nachspielzeit.

Philipp Lahm schrieb in einem Gastbeitrag für den kicker: Ab sofort zählen nur noch Klarheit und Konzentration auf den gemeinsamen Erfolg. Spüren Sie diese Klarheit und Konzentration im Umfeld der Nationalmannschaft, Herr Völler?

Mehr als Klarheit und Konzentration hilft uns, wenn wir Spiele gewinnen, und da war der Erfolg gegen die Franzosen nach den sieglosen Partien davor, als die öffentliche Meinung schon richtig im Keller war, sehr wichtig. Jetzt ist zwar nicht alles auf einmal wieder gut, aber die Grundstimmung ist wieder eine andere und wird hoffentlich noch besser. Die Menschen in Deutschland wollen ja, dass es uns gut geht, dass wir funktionieren und mitreißenden Fußball spielen - gerade vor einer Heim-EM. Das hatte ich schon in Wolfsburg gegen Japan gemerkt, wobei die Stimmung am Ende nach dem 1:3 und 1:4 dann gekippt ist.

Völler über das Frankreich-Spiel: "Fühlte sich für die Fans wie eine Befreiung an"

Gegen Frankreich war sie dafür am Ende schier überschäumend.

Man hatte das Gefühl, dass es sich für die Fans wie eine Befreiung anfühlte und der berühmte Funke übergesprungen war. Wir haben Frankreich ja nicht an die Wand gespielt, aber die Mannschaft hat sich reingehauen wie in ein gefühltes K.-o.-Duell, sie hat jeden Zweikampf angenommen und sich zerrissen. Das wollen die Menschen sehen, dann sehen sie auch darüber hinweg, wenn mal etwas danebengeht.

Es ehrt Sie, dass Sie Ihre Rolle als erfolgreicher Interimstrainer in dem Spiel gar nicht thematisiert haben. Wie groß war Ihr Effekt bei dem Stimmungs-Turnaround im Dortmunder Stadion, in dem nach fünf Minuten schon die ersten Rudi-Völler-Rufe ertönten?

Da haben wir ja auch schon 1:0 geführt (schmunzelt). Natürlich freut mich diese Zuneigung, das ist schön und keine Selbstverständlichkeit. Ich weiß aber auch, dass so etwas immer am seidenen Faden hängt. Das Spiel gegen die Franzosen hätte auch anders ausgehen können, die hatten ja noch reichlich Material auf der Bank. Als nach 65 Minuten Dembelé eingewechselt wurde, dachte ich im ersten Moment: Oh, den haben sie ja auch noch!

Auch vor der Heim-WM 2006 war die Stimmung im Land gedämpft und nach der 1:4-Pleite gegen Italien geradezu empört.

Stimmt, nach dem Spiel in Florenz hat wirklich fast jeder schwarzgemalt. Und das blieb im Grunde genommen so bis zum 1:0-Treffer von Philipp Lahm im WM-Eröffnungsspiel gegen Costa Rica.

Steht die Aufbruchstimmung nun bei den Begegnungen gegen die USA und Mexiko schon wieder auf dem Spiel?

So sehe ich es nicht. Wir haben einen neuen Bundestrainer, der seine eigenen Vorstellungen und seine Fachkompetenz mit einbringt, der die Jungs mit seiner Art mitreißen kann. Natürlich willst du alle Spiele gewinnen. Aber wichtiger ist die Art und Weise, wie wir auftreten: für uns selbst, für die Medien und für die Menschen, die es am Fernseher oder im Stadion anschauen. Wir müssen es jetzt, aber auch in den November-Spielen gegen Österreich und die Türkei schaffen, dass wir alle mit einem guten Gefühl ins nächste Jahr gehen. Die Franzosen werden bei der EM trotz der Niederlage gegen uns der Top-Favorit sein, aber wir wollen uns einreihen in die sechs bis acht Länder, die auch eine gute EM spielen und weit kommen wollen.

Mein allererster Reflex, als ich beim DFB wieder anfing, war auch: Muss das jetzt sein?

Rudi Völler über die USA-Reise

Spieler wie Niklas Süle kritisierten zuletzt offen die USA-Reise. Ist es vielleicht sogar ganz gut und hilfreich, dass Julian Nagelsmann fernab der Heimat starten kann?

Mein allererster Reflex, als ich beim DFB wieder anfing, war auch: Muss das jetzt sein? Wenn man aber ein bisschen weiterdenkt, dann macht es schon auch Sinn, dass wir uns mit der Nationalmannschaft vor der WM 2026 mal wieder in Amerika zeigen. Außerdem kann so eine Tour eine Gruppe zusammenschweißen, das gilt nach dem Trainerwechsel umso mehr. Und vielleicht hilft es allen Beteiligten, dass der Hype ein bisschen kleiner sein wird. Ich will die ganze Sache nicht total schönreden, aber ein paar kleine Vorteile hat sie schon. Und was die Reisestrapazen betrifft: So dramatisch ist das nicht. Ich habe in Leverkusen über viele Jahre erlebt, dass unsere Südamerikaner in fast jeder Länderspielpause rübergeflogen sind.

Dortmund muss schon zwei Tage nach dem Mexiko-Spiel in der Bundesliga gegen Werder Bremen ran.

Das hätte man im Vorfeld bei der Spieltagsplanung eigentlich besser regeln können. Wobei: Man hätte das Spiel auch jetzt noch verlegen können. Wir waren in den Gesprächen mit DAZN so weit, dass wir es auf Sonntag hätten terminieren können. Aber das wollte die Borussia nicht, weil sie am folgenden Mittwoch ein Champions-League-Spiel gegen Newcastle hat.

Sie haben Nagelsmanns Verpflichtung als Glücksfall bezeichnet.

Ich weiß, der Begriff wird oft benutzt, aber in diesem Fall ist es wirklich so. Ich kenne es ja auch aus dem Klub, wie es ist, wenn du einen neuen Trainer suchst. Dann gibt es auf dem Markt oft nicht den Coach, den du gerne hättest. Deshalb war es etwas ganz Besonderes, dass Julian frei war. Ich weiß definitiv, dass er schon vor ein paar Wochen und Monaten unglaublich gute Anfragen von europäischen Klubs hatte und diese in Kürze auch wieder hätte haben können.

Ich habe gespürt, dass er nicht groß überlegen musste und es unbedingt machen möchte.

Rudi Völler über das erste Gespräch mit Julian Nagelsmann

Wie lief das erste Gespräch mit ihm?

Eigentlich hat es gleich klick gemacht - auf beiden Seiten. Ich habe gespürt, dass er nicht groß überlegen musste und es unbedingt machen möchte. Und für mich war eh klar, dass er der Richtige ist.

Was zeichnet ihn für die Aufgabe aus?

Allein schon seine Vita. Ich konnte die Diskussionen um seine angeblich fehlende Erfahrung gar nicht nachvollziehen. Er war Trainer in Hoffenheim, Leipzig und bei Bayern München, hat da reichlich Erfahrungen gesammelt. Gut, in München ist es nicht so gut zu Ende gegangen, aber was er bei seinen vorherigen Stationen erreicht hat, war sensationell. Seine Art, die Leute mitreißen zu können, gepaart mit seiner Fußball-Kompetenz und seiner Fähigkeit, Spiele zu lesen, machen ihn zu einem außergewöhnlichen Trainer und zu einem Glücksfall für uns. Klar wird es etwas anders sein als Verbandstrainer, da kommt der Feinschliff erst in der Turnier-Vorbereitung im Sommer. Aber er weiß, wie es funktioniert. Das ist wichtig.

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In München wurde ihm nach seinem Scheitern nachgesagt, es habe ihm an menschlicher Reife gemangelt. Sie schmunzeln bei der Feststellung?

Man muss ja auch immer berücksichtigen, dass Bayern München ein besonderer Verein ist. Und ich will mich auch nicht der Einschätzung anschließen, dass Julian gescheitert ist, auch ein Carlo Ancelotti musste da vorzeitig gehen. Der Anspruch bei Bayern ist ein ganz anderer als bei allen übrigen Bundesligaklubs. Nur Deutscher Meister zu werden reicht da eben nicht, da musst du das Double holen, mindestens ins Halbfinale der Champions League kommen und die Leute mitreißen.

Hatte es Nagelsmann auch deshalb besonders schwer, weil er mit Kahn, Salihamidzic, Hoeneß und Rummenigge ein spezielles und nicht gerade homogen agierendes Umfeld vorfand?

Ein besonderes Umfeld - ganz nebenbei mit extremer Qualität - hatten die Bayern ja schon immer. Aber man muss auch festhalten, dass sie zwar die wirtschaftlich besten Möglichkeiten in Deutschland haben, dass sie aber auch relativ wenige Fehler machen bei Transfers. Das ist ihre große Gabe schon seit vielen Jahren. Da gibt es bekanntlich auch andere Beispiele. Bei Paris St. Germain und ein paar anderen Klubs frage ich mich häufiger, was die da gerade gemacht haben. Bei Bayern nicht.

Julian hat seine Zeit in München sehr gut für sich selbst analysiert. Und das war beeindruckend.

Rudi Völler

Nagelsmann hat bei der Pressekonferenz zu seiner Vorstellung gesagt, er habe bei Bayern Fehler gemacht, die er als Bundestrainer vermeiden möchte. War das auch Gegenstand Ihrer Gespräche?

Julian hat seine Zeit in München sehr gut für sich selbst analysiert. Und das war beeindruckend. Er ist jetzt 36, da habe ich gerade als Bundesligaspieler hier in Leverkusen aufgehört. Da wäre ich noch gar nicht geeignet gewesen für solch eine verantwortungsvolle Aufgabe als Teamchef.

So furchtbar viel älter waren Sie als 40-Jähriger bei Ihrer Ernennung zum Teamchef nach der EM 2000 aber nicht. Entdecken Sie Parallelen?

Vor allem entdecke ich Unterschiede. Ich hatte viel, viel weniger Trainer-Erfahrung als Julian, das kann man gar nicht miteinander vergleichen. Ohne dass ich mich mit dem Kaiser messen möchte, gab es mehr Parallelen zu Franz Beckenbauer, weil wir beide zuvor keine Trainer waren.

Völler will allein dem Bundestrainer die Entscheidungen überlassen - bietet aber seinen Rat an

Hat Ihnen Nagelsmann inzwischen erklärt, was ein Longboard ist?

Hätte ich das akustisch verstanden bei der Pressekonferenz, dann wäre es gar nicht nötig gewesen. Seit dem 80er-Jahre-Film "Zurück in die Zukunft" sind mir nämlich solche Fortbewegungsmittel durchaus vertraut …

Wie können Sie Nagelsmann helfen und beistehen in den nächsten Monaten?

Wir haben uns kürzlich noch mal in München getroffen und uns einen ganzen Nachmittag zusammengesetzt, um uns auszutauschen. Da konnte ich ihm vielleicht meine Erfahrungswerte mitgeben, aber das habe ich bei Hansi auch gemacht. Klar ist: Julian ist der Bundestrainer, er trifft die Entscheidungen, wer nominiert wird und spielen soll. Da rede ich ihm nicht rein, aber wenn er meine Meinung hören möchte, sage ich sie ihm.

Glauben Sie, dass Nagelsmann angesichts der Tatsache, dass sein Projekt nur auf die EM ausgerichtet ist, bei der Berücksichtigung von Spielern nur den Fokus auf die Momentaufnahme legt und nicht darauf, junge Spieler an die WM 2026 heranzuführen?

Dass du Einladungen aussprichst mit dem Hintergedanken, was in drei Jahren ist, macht heutzutage kein Nationaltrainer mehr. Das hätte auch Hansi nicht gemacht. Dafür hat eine Europameisterschaft einfach einen viel zu hohen Stellenwert.

Ilkay Gündogan sagte, die Stimmung innerhalb des Teams sei zwar gut gewesen, aber insbesondere die Jüngeren hätten sich nicht immer frei gefühlt und seien daher gehemmt gewesen. Wie wollen Sie dem künftig entgegenwirken?

Das ist der Grund, warum ich gesagt habe, dass wir den EM-Heimvorteil natürlich nutzen wollen, diese Erwartungshaltung aber auch nicht zu einer Belastung werden darf. Bei aller Wichtigkeit solch eines Heim-Turniers: Der Druck darf nicht ins Immense steigen. Am Ende ist es nur Fußball, das musst du den jungen Spielern mitgeben.

Sind die deutschen Basketballer ein Paradebeispiel, wie man mit Teamgeist als individuell nicht bestbesetzte Mannschaft doch Weltmeister werden kann?

Teamgeist und Euphorie sind ungeheuer wichtig, das haben doch auch die Argentinier in Katar wunderbar bewiesen. Die haben das erste Spiel gegen Saudi-Arabien verloren, da hat doch keiner geglaubt, dass die noch Weltmeister werden. Aber sie haben es hingekriegt, auch über die fußballerische Qualität eines Messi und ein paar anderer Jungs, aber vor allem über Teamgeist und extreme Leidenschaft. Die hatten die paar Prozent mehr, die uns, aber auch ein paar anderen Ländern bei dieser WM fehlten.

Führungsspieler wie Joshua Kimmich oder Leon Goretzka, die auf drei erfolglose Turniere zurückblicken, äußerten die Sorge, als Loser-Generation abgestempelt zu werden. Wie können bei ihnen - eventuell unterschwellige - Versagensängste in positive Turnierenergie umgewandelt werden?

Messi musste fünf Weltmeisterschaften bestreiten, bis er den Pokal endlich in die Höhe heben konnte. Er ist das beste Beispiel dafür, dass du nicht aufgeben darfst und immer an dich glauben musst.

Die DFB-Trikots von 1934 bis heute

In Katar hat die deutsche Mannschaft auch darunter gelitten, dass abseits vom sportlichen Aspekt eine Haltung zu politischen Themen von ihr erwartet wurde. Von der Heim-EM wird jetzt allseits erwartet, dass ein Ruck durch das gesamte Land folgt. Müssen Sie da gegensteuern?

Von vornherein gegensteuern müssen wir nicht. Druck gehört generell einfach auch dazu, aber allen muss bewusst sein: Wir spielen Fußball. Wir sind dafür da, den Menschen in unserem Land Freude zu bereiten, Leichtigkeit zu vermitteln. Und das hoffentlich vier Wochen lang. Die Spieler sollen es als Privileg wahrnehmen, eine EM im eigenen Land spielen zu dürfen.

Ist Leichtigkeit genau das, was unter Hansi Flick zuletzt gefehlt hat?

Ja, und das gilt für alle, auch für Hansi selbst. Ich habe gedacht, wir kriegen das hin, aber letztlich war die Bürde des Ausscheidens bei der WM zu groß. Und zwar viel größer, als wir alle dachten. Nach der Weltmeisterschaft gab es allgemein das Gefühl und die Erwartung, dass sofort alles perfekt funktionieren muss. Das hat man auch Hansi angemerkt. Ich kenne dieses Gefühl persönlich auch und kann sagen: Das ist unangenehm und kann belasten.

Sie selbst haben nach dem Vorrunden-Aus bei der EM 2004 die Konsequenz mit den Worten gezogen: "Egoismus ist ein falscher Freund. Manchmal muss man sich auch an die eigene Mütze fassen." Hätte diese Haltung Hansi Flick auch geholfen?

Es geht nicht darum, die Situationen miteinander zu vergleichen, zumal wir Hansi ja halten wollten. Ich kann deshalb nur meinen Entschluss von damals erklären.

Ich wäre nicht die beste Lösung gewesen. Die beste Lösung ist Julian.

Rudi Völler

Bitte sehr!

Viele Verantwortungsträger wollten mich damals umstimmen. Aber ich kann mich gut einschätzen. Ich weiß, was ich kann, und ich weiß auch, was andere besser können als ich. Das war auch jetzt im September so ähnlich: Wenn ich nach dem Sieg gegen Frankreich ein Zeichen zum Weitermachen gegeben hätte, wäre das vielleicht möglich gewesen. Aber ich bin ehrlich zu mir selbst: Ich wäre nicht die beste Lösung gewesen. Die beste Lösung ist Julian. Nur weil es gegen Frankreich gut lief, zu sagen, jetzt machen wir weiter, wäre gegen meine Überzeugung gewesen.

Auch Joachim Löw hat kürzlich eingeräumt, er hätte besser schon nach dem WM-Aus 2018 aufgehört. Weshalb fehlte wie zuvor Flick auch ihm jener Instinkt?

Hinterher ist man immer schlauer, und das gilt für mich genauso. Auch ich habe nicht immer die richtigen Entscheidungen getroffen, mich nicht immer auf meinen Instinkt verlassen. 2004 nach meinem Rücktritt als Teamchef wollte ich bewusst eine Pause, obwohl ich direkt mehrere Angebote hatte. Aber dann fragte AS Rom an, mein Verein, weil sie kurzfristig Hilfe brauchten - und ich habe zugesagt. Es war die falsche Entscheidung, das habe ich schnell gemerkt und bin nach gut zwei Monaten zurückgetreten - obwohl es eigentlich gar nicht so schlecht lief.

Im Winter haben Sie wieder eine Grundsatzentscheidung revidiert und das Fußballrentner-Dasein für den Sportdirektoren-Posten beendet. Hätten Sie für möglich gehalten, dass so ein turbulentes Jahr folgt?

Nein, wirklich nicht. Das war aus meiner Sicht nicht zu erwarten. Als die Taskforce mich auserkoren hatte, war mein Plan, den Bundestrainer zu unterstützen vor allem auch durch meine guten Verbindungen zu den Vertretern der anderen Klubs in der Bundesliga und in Europa.

Als die September-Länderspiele beendet waren, sahen Sie mitgenommen aus, insbesondere nach dem 1:4 gegen Japan in Wolfsburg wirkten Sie gezeichnet. Weil es Ihnen persönlich naheging, dass es nicht gelungen ist, Flick zu unterstützen?

Natürlich geht einem ein Trainerwechsel immer nahe. Und weil Sie die Situation nach dem Spiel in Wolfsburg ansprechen: Das war tatsächlich ein schwieriger Moment, der vielleicht am meisten gezehrt hat. Weil mir nach dem Spiel natürlich klar war, was jetzt auf uns zukommen würde - die Gespräche mit Hansi und seinen Co-Trainern, die vielen organisatorischen Dinge, eine komplette Neuausrichtung. Ich hatte in diesem Moment 1000 Dinge im Kopf. Und das war mir dann auch anzusehen.

War es im Nachhinein eine Fehleinschätzung, trotz Katar zu glauben, es reicht für die Wende, wenn Sie Flick unterstützen?

Wir haben alle unterschätzt, dass die Bürde des Ausscheidens so groß war. Manchmal orientiert man sich ja auch an Statistiken, wenn sie einem dienen: Wir hatten in der Vorrunde die meisten Chancen, die wenigsten zugelassen. Daran haben wir uns festgehalten und gedacht: Es hat gar nicht so viel zum Weiterkommen gefehlt. Aber letztlich müssen wir auch so ehrlich sein und sagen, dass wir nicht gut verteidigt haben. Und das als Nation, die mal das Land der Verteidiger war.

Völlers Erfolgsrezept: Zweikampfstärke und Nagelsmanns "kreativer Ansatz"

Hat Deutschland seine fußballerische Identität im Laufe der letzten Jahre verloren?

Ja, das ist schon viel diskutiert worden und hat mit der Ausbildung zu tun. Schöner Fußball ist erstrebenswert, natürlich, auch der Zeitgeist hat sich verändert. Aber Zweikämpfe oder das Gewinnen der Kopfballduelle bleiben die Basis. Als wir 2002 Vize-Weltmeister wurden, hatten wir nicht die beste Mannschaft, aber wir waren stabil und kompakt: Bis zum 0:2 im Finale gegen Brasilien hatten wir lediglich ein Gegentor kassiert.

Nagelsmann bleiben nur acht Monate, um die Situation zu drehen. Wie kann das gelingen?

Mit einer Kombination aus der Stabilität und Bereitschaft im Zweikampf, die wir im September gegen Frankreich gesehen haben, und dem kreativen Ansatz von Julian. Das ist das, was es ausmacht.

Wir sind nicht so schlecht, wie wir es in den Spielen vor Frankreich gemacht haben.

Rudi Völler

Reicht das? Im Juni haben Sie die Qualität der Spieler infrage gestellt. Weil Sie damals Flick schützen wollten oder weil Sie wirklich Zweifel haben?

Wir sind zweimal nacheinander bei Weltmeisterschaften in der Vorrunde ausgeschieden, dazwischen war bei der EM im Achtelfinale Schluss - das hat Gründe. Einmal kann einer großen Fußballnation so etwas passieren, aber wenn es dreimal vorkommt, ist es kein Zufall. Dennoch sage ich auch: Wir sind nicht so schlecht, wie wir es in den Spielen vor Frankreich gemacht haben.

Nagelsmann hat Gündogan gleich als Kapitän bestätigt. Die richtige Entscheidung?

Ja. Wenn man einen Spieler hat, der auf absolutem Top-Niveau so viele wunderbare Spiele gemacht hat, gab und gibt es keinen Grund, etwas zu ändern.

Dennoch hat Gündogan in der Nationalelf lange nach seinem Platz suchen müssen.

Das ist richtig. Aber das bestätigt mich in meiner Einschätzung, dass wir besser sind, als sich die Situation zuletzt dargestellt hat. Denn gerade auf der Position im zentralen Mittelfeld haben wir viele Top-Spieler. Es wird eine von Julians Aufgaben, das zusammenzufügen.

Nagelsmanns Vertrag läuft nur bis zum Sommer, Sie selbst erwähnten eingangs seine Job-Möglichkeiten. Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass Ihr Bundestrainer im Frühjahr schon kommende Angebote sondieren kann?

Ich weiß gar nicht, ob das eine Gefahr ist. Ich glaube nicht, dass Julian deshalb schlaflose Nächte hätte. Ich jedenfalls hätte keine. Ich hätte sie eher dann, wenn er keine Angebote hätte. Denn dann hätten wir etwas falsch gemacht.

Stichwort "schlaflose Nächte". Glauben Sie, dass Nagelsmann die Druckresistenz für den Job des Bundestrainers mitbringt?

Ja, da bin ich mir sehr sicher. Er hat den FC Bayern trainiert und sich dennoch seine Unbekümmertheit bewahrt. Das finde ich sehr wichtig. Natürlich, das weiß ich aus meiner eigenen Erfahrung als Teamchef, ist dieser Job etwas anderes als der des Bundesligatrainers und die Drucksituation noch größer. Aber es wird funktionieren.

Dieses Interview erschien zuerst in der kicker-Ausgabe Nr. 82 am 9. Oktober 2023.

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