Bundesliga

Manuel Neuer: Retourkutschen, Rückschläge, neun Monate Reha

Comeback des Bayern-Kapitäns rückt näher

Retourkutschen, Rückschläge, neun Monate Reha: Neuers langer Weg zurück

Das Comeback von Manuel Neuer rückt näher.

Das Comeback von Manuel Neuer rückt näher. picture alliance / RUIZ

Knapp neun Monate ist es jetzt her. Lange neun Monate. Am 9. Dezember 2022 zieht sich Manuel Neuer einen offenen Schien- und Wadenbeinbruch zu, als der Kapitän des FC Bayern und der Nationalmannschaft nach der verpatzten und für ihn, auch wegen der ewigen Binden-Diskussion, äußerst deprimierenden WM in Katar bei einer Skitour den Kopf freibekommen will. Für Neuer eigentlich nichts Ungewöhnliches, er überquerte auch schon die Alpen. Aber eben nur eigentlich.

Sein Ausflug im vergangenen Winter wird zum Desaster und aufgrund der schlechten Schneeverhältnisse höchst kritisch betrachtet. Ob Neuer tatsächlich vollkommen leichtsinnig gehandelt hat? Schwer zu sagen, hatte er doch extra einen Bergführer bei sich, um Risiken zu vermeiden. Am Ende half aber auch das nichts. Saisonaus! Mindestens. So lautet die Prognose. Neuer hatte sogar noch Glück im Unglück, dankt heute noch der Bergwacht, die blitzschnell vor Ort war und damit gravierendere Folgen verhindert. Wer weiß, wie es sonst um den 37-Jährigen und seine Karriere stehen würde …

Am Anfang war Geduld gefragt - Tapalovic-Aus erwischt Neuer eiskalt

Die unmittelbar folgende Operation dieser komplizierten Fraktur bei Top-Experten unter Anwesenheit eines Vereinsarztes verläuft gut. Am Tag danach denkt Neuer bereits an seine Comebackpläne, um schnellstmöglich zurückkehren und wieder im Tor stehen zu können. Er unterhält sich mit den Verantwortlichen seines Vereins, mit den Medizinern, setzt sich dabei wohldosierte, kurzfristige Ziele, heißt: Geduld bewahren, behutsam auskurieren.

Anfang Januar zeigt sich die Nummer 1 auf Krücken, optimistisch gestimmt teilt er ein Foto davon in den sozialen Medien, schreibt dazu mit einem Augenzwinkern und mit Blick auf den Abflug der Kollegen am 6. Januar nach Katar: "Für das Trainingslager hat es nicht ganz gereicht. Aber ich arbeite weiter an der Säbener Straße. Schritt für Schritt." Auch in seinem Haus am Tegernsee, das Neuer für seine Reha präparieren lässt, arbeitet er jeden Tag an seiner Genesung, ehe ihn am 23. Januar eine Nachricht komplett überfährt. Torwarttrainer Toni Tapalovic, sein Trauzeuge und engster Vertrauter, muss mit sofortiger Wirkung gehen.

Erst kommt der Mensch, dann das Geld - und nicht andersrum.

Uli Hoeneß

Warum? Weil es Dissonanzen zwischen ihm und dem damaligen Trainer Julian Nagelsmann gegeben haben soll. Eine Posse, die Neuer eiskalt erwischt, beim FC Bayern intern für mächtig Unruhe sorgt und nach kicker-Informationen im Nachhinein mit als ein Grund für die schlechte Rückrunde ausgemacht wird. Selbst Mitglieder des Münchner Trainerstabes sind zum damaligen Zeitpunkt von dieser Entscheidung völlig verblüfft und können diese kaum bis gar nicht verstehen. So geht es auch Sven Ulreich. "Natürlich kam das für Manu und für mich sehr überraschend", sagt der aktuelle Neuer-Vertreter: "Es war in der Form auch nicht hundertprozentig nachvollziehbar. Tapa ist ein feiner Kerl und ein super Torwarttrainer."

Getuschel hinter verschlossenen Türen

Es ist eine Maßnahme, die Nagelsmann forciert und Sportdirektor Hasan Salihamidzic abgesegnet hat - aus seltsamen Gründen. Aber sie passt zum Gesamtbild des FC Bayern der vergangenen zwei Jahre, das geprägt ist von wenig Feingefühl und keinerlei Gespür für die Mannschaft. Genauso, dass von so manchem im Teambereich Angestellten hinter verschlossenen Türen getuschelt wird, ohne es seriös bewerten zu können, Neuer werde womöglich nie mehr ins Tor zurückkehren. Dadurch wird nur unnötig Panik verbreitet.

Für weiteres Kopfschütteln sorgt eine Aussage von Salihamidzic, der im Januar noch offenlässt, ob Neuer für seinen Unfall monetär belangt wird. Darauf angesprochen sagt er, dass man darüber "intern auch sprechen" werde. Ehrenpräsident Uli Hoeneß hingegen verteidigt Neuer: "Erst kommt der Mensch, dann das Geld - und nicht andersrum." Da ist es sehr verwunderlich, dass man Neuer intern den Vorwurf macht, er bringe den Klub in finanzielle und sportliche Nöte, weil der FCB jetzt Ersatz suchen und Yann Sommer - mit dem sich Neuer super versteht - für rund acht Millionen Euro verpflichten muss. Will man Neuer grobe Fahrlässigkeit unterstellen?

All diese Aussagen und Einschätzungen registriert Neuer in den ersten Wochen nach seiner OP genau. Und wer ihn kennt, weiß, dass der sonst in der Öffentlichkeit sehr diplomatisch auftretende Torhüter in persönlichen Belangen schnell rigoros werden kann. Es gärt in ihm. Doch das erkennt die einstige Bayernführung anscheinend nicht. Naiv denkt sie, der Torwart werde all das auf sich sitzen lassen und sich im Hintergrund ruhig verhalten, wenn ihm ständig Schuld zugesprochen wird und ausgerechnet in seiner Abwesenheit seine Bezugsperson gehen muss.

Neuers "Retourkutschen-Interview"

Schnell ist klar: Das Verhältnis Neuer/Nagelsmann und das Verhältnis Neuer zu Teilen der damaligen Vereinsführung ist schwer bis nicht mehr zu reparieren. Sein Vertrauen geht verloren. Dementsprechend sollte das Retourkutschen-Interview, das Neuer - natürlich ohne Wissen der Bayern - der "Süddeutschen Zeitung" und "The Athletic" gab, wenig überraschend dahergekommen sein.

Immerhin geht es für ihn gesundheitlich aufwärts. Am 24. Februar ist er bei einem Mannschaftsabend erstmals ohne Krücken zu sehen, zwei Wochen später, am 8. März, beim Achtelfinalrückspiel in der Champions League gegen Paris St. Germain (2:0) dann als Tribünengast im Stadion; er fiebert mit, reißt bei der Rettungsaktion von Matthijs de Ligt auf der Linie, als Sommer schon geschlagen war, die Fäuste in die Luft. Der Frust und die Enttäuschung neben dem Platz sind in diesem Moment vergessen, haben keine Auswirkungen auf den Rehaprozess.

Tuchel übernimmt - Neuers erste Einheiten auf dem Platz

Mit einem mit den Ärzten abgestimmten Plan arbeitet Neuer weiter an seinem Comeback. Wasserübungen, erste sanfte Teilbelastungen. Läuft alles wie erwartet und ohne Komplikationen, könnte der Torhüter pünktlich zum Saisonstart 2023/24 wieder zwischen den Pfosten stehen - so seine Überzeugung. Lange sieht es richtig gut aus, das Ziel in Reichweite. Als Nagelsmann am 23. März von seinen Aufgaben entbunden wird und Thomas Tuchel übernimmt, stützen die erste Gespräche mit dem neuen Coach am zweiten Tag seines Wirkens den Kapitän. Denn Tuchel signalisiert von Beginn an, dass er auf Neuer zählt, dass er ihn als Führungsspieler braucht.

Selbst als der Keeper weiterhin noch individuell arbeitet, tauschen sich Trainer und Spieler, der ja auch täglich an der Säbener Straße weilt, regelmäßig aus. Neuer schätzt diese Unterhaltungen - und macht Fortschritte. Ende Mai ist er sogar so weit, erste Einheiten wieder auf dem Platz absolvieren zu können - und entscheidet sich zwei Tage vor dem letzten Spieltag, in jedem Fall mit der Mannschaft nach Köln zu fliegen, weil er an die Meisterschaft glaubt und als Kapitän die Schale würde in Empfang nehmen dürfen. Es kommt wie erwartet - oder zumindest wie erhofft. Bayern wird Meister, Neuer reißt als Erster die silberne Trophäe in die Höhe.

Manuel Neuer

Manuel Neuer bei der Übergabe der Meisterschale mittendrin. IMAGO/Ulrich Hufnagel

Arthroskopischer Eingriff - Schmerzen beim Schießen

Zwei Tage später, am 29. Mai, reisen seine Kollegen entweder zu den Nationalteams oder in den Urlaub. Neuer hingegen muss sich routinemäßig eine Schraube entfernen lassen, dies geschieht arthroskopisch. Deshalb kann er nach nur einem Tag Pause sein Programm fortsetzen. Ungebrochen der Optimismus, dass es bis zum Saisonstart klappen könnte. Selbst in Costa Rica, wo Neuer Ende Juni/Anfang Juli urlaubt, folgt er seinem Rehaplan und ist guten Mutes.

Doch zurück an der Säbener Straße, zum Trainingsauftakt der Bayern, verspürt er mit zunehmender Belastungssteigerung und Intensitätserhöhung Schmerzen in der rechten Wade. Nicht beim Springen, nicht beim Laufen, allein beim Schießen. Er teilt seine zwei Einheiten auf, trainiert vormittags in München, nachmittags bei der Mannschaft am Tegernsee. Aber der Schmerz bleibt, es drückt die eingesetzte, zur Stabilisierung des Knochens dienende Platte. Neuer hofft, dies werde sich schon noch legen. Doch dem ist nicht so. Für ihn ein Dämpfer: Die Platte muss raus, der Zeitplan verschiebt sich, die Asientour ist gelaufen, der Saisonstart auch.

Comebackplan verschoben - Neuer schätzt Austausch mit Tuchel und Rechner

Nach dieser Hiobsbotschaft rätseln die Kaderplaner des FC Bayern, wie sie auf der Torhüterposition nun verfahren sollen. Keiner weiß, wie lange Neuer fehlen wird. Muss Sommer doch bleiben? Schwierig, auch weil eine Klausel ihm den Abgang vereinfacht und die Bosse ihm keinen Stein in den Weg legen möchten. Heißt für die Münchner: Sie brauchen Ersatz. Eine potenzielle, aber nur vorübergehende Nummer 1? Befürworter dieses Modells gibt es im Verein, genauso wie Zweifel, ob der Keeper tatsächlich nochmals zu alter Stärke zurückfinden werde.

Neuer jedenfalls wird über mögliche Kandidaten informiert. Sein Austausch mit Trainer Tuchel, den Vereinsbossen und Torwarttrainer Michael Rechner ist gut, der Umgang mit ihm sehr fair. Das weiß der Weltmeister von 2014 zu schätzen. Namen wie Giorgi Mamardaschwili, David de Gea, Geronimo Rulli werden diskutiert; mit David Raya sind die Gespräche zwischenzeitlich sogar weit fortgeschritten, ehe er sich dem FC Arsenal anschließt; auch mit Kepa stehen die Bayern kurz vor einer Einigung, ehe Real Madrid einen Ersatz für Thibaut Courtois nach dessen Kreuzbandriss benötigt und sich Kepa für die Königlichen entscheidet.

Erneuter Eingriff wirkt "sehr positiv"

Während dieser wenig erfolgreichen Torwartsuche der Bayern geben die Ärzte nach detaillierter Untersuchung Neuers grünes Licht für einen Eingriff. Schließlich kann die Platte nur dann entfernt werden, wenn die restlichen Werte stimmen, wenn die Kaliumbildung und die Stabilität des Knochens gut genug sind, wenn das Gewebe drumherum in Ordnung ist. Dem ist so, sonst wäre die große Ungewissheit ausgebrochen.

Manuel Neuer

Manuel Neuer arbeitet mit vollem Einsatz am Comeback. picture alliance / Lackovic

Die Operation am 30. Juli kostet Neuer gut eine Woche und bedeutet gleichzeitig einen Rückschlag im Aufbautraining. Doch nach ersten Übungen und leichter Steigerung der Intensität merkt der Keeper, dass mit der Platte auch der Schmerz beseitigt wurde. Die medizinischen Untersuchungen liefern Topresultate. Neue Zuversicht, Neuer kommt wohl zeitnah zurück. Aufatmen beim FC Bayern. Woraufhin die Transfer-Verantwortlichen ihre Ausrichtung überdenken.

"Wir haben grundsätzlich eine gute Nachricht, weil der Eingriff bei Manuel Neuer sehr positiv wirkt", sagt Tuchel: "Die Prognose für den Einstieg ins Mannschaftstraining hat sich verkürzt. Das, was ich in den letzten Tagen von Manu gesehen habe, war sehr beeindruckend. Und das hat natürlich Auswirkungen auf die Planung." Es brauche keine Übergangs-Nummer-1 mehr, sondern nur einen Ersatz für den Fall, dass Ulreich in der nicht mehr allzu langen Abwesenheit Neuers ebenfalls ausfallen sollte.

Die Verpflichtung des jungen, talentierten Daniel Peretz, der für fünf Millionen Euro von Maccabi Tel Aviv nach München wechselt, unterstreicht: Neuers Heilungsprozess verläuft positiv, sein Comeback rückt näher. Fraglich bleibt in dieser ganzen Thematik nur, warum es dem FCB nicht gelingt, einen potenziellen dritten Torwart, für genau solche Fälle, am Campus auszubilden …

Endgültige Rückkehr ins Teamtraining und weitere Fortschritte

Am Montag, dem 28. August, steigt Neuer dann tatsächlich ins Mannschaftstraining ein. Teilintegriert, so heißt es. Auch jetzt, in der aktuellen Länderspielpause, gibt es weitere Fortschritte: Er trainiert je nach Belastungssteuerung mit dem Team oder individuell. Eine exakte Prognose will niemand stellen - verständlicherweise. Neuer soll keinen Druck haben. Denn: So banal es auch klingt, von Tag zu Tag werden die Entwicklung beobachtet und die Werte gemessen.

Angepeilt für das Comeback des zweimaligen Triple-Siegers wird Ende September, Anfang Oktober. An Optimismus mangelt es Neuer seit neun Monaten nicht. Allerdings wird diesmal, jetzt, so nah vor dem Ziel, gewiss nichts überstürzt. Selbst wenn es sich bis Mitte oder Ende Oktober ziehen sollte - für den FC Bayern und Manuel Neuer zählt nach dann gut zehn Monaten nur eines: Dass er es, entgegen vielen Zweiflern, die es bereits 2019 gab, als der Deal mit Alexander Nübel ausgehandelt wurde, doch wieder einmal packen wird. Und der Unfall mit all seinen Folgen Schnee von gestern bleibt.

Dieser Text erschien erstmals in der kicker-Ausgabe vom 7. September. Hier können Sie sich den kicker als eMagazine sichern.

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