Bundesliga

"War fast ein komplettes Glücksschwein": Hans Meyer wird 80

Ehemaliger Trainer im Interview zum 80. Geburtstag

Hans Meyer: "Ich war fast ein komplettes Glücksschwein"

Spricht im kicker-Interview über das Leben und den Fußball: Hans Meyer.

Spricht im kicker-Interview über das Leben und den Fußball: Hans Meyer. imago/Karina Hessland

Nachhaltigkeit ist Hans Meyer wichtig. Kein Glas, seine Schorle trinkt er aus der Flasche. Hier im Nürnberger Café Rösttrommel sitzt er oft, es befindet sich in Sichtnähe seiner Wohnung. An diesem sonnigen Herbsttag bevorzugt er den Aufenthalt im Freien. Das launige wie ernste Gespräch wird mehr als zwei Stunden dauern.

Herr Meyer, wie werden Sie Ihren 80. Geburtstag an diesem Donnerstag feiern?

Am Geburtstag selbst im engsten Familienkreis, mit immerhin 42 Personen, darunter meinen zehn Enkelkindern. In den zwei Wochen danach werde ich im Abstand von drei, vier Tagen mit verschiedenen Gruppen nachfeiern, weil ich mit jedem Gast richtig sprechen möchte, nicht nur oberflächlich.

Es heißt, man sei so alt, wie man sich fühle. Können Sie diesen Spruch bestätigen?

Vor drei Monaten hätte ich mich viel jünger als 80 gefühlt. Aber da ich zwischenzeitlich eine Halswirbeloperation hatte mit allen Beschwerden vorher und nachher inklusive der noch andauernden Reha, fühle ich mich schon eher wie ein 80-Jähriger. Man kann seine Verfassung nicht immer selbst bestimmen, aber ich versuche, meinen Beitrag zu leisten, indem ich mich bewege und Sport treibe. Ich will also nicht meckern über mein Alter. Mich macht es schon zufrieden, wenn die Frauen über 75 zu mir sagen: Herr Meyer, geht es Ihnen wirklich so gut, wie Sie aussehen? (grinst)

Welche Gedanken löst es in Ihnen aus, die Schwelle von 80 Jahren zu erreichen?

Es ist überschaubar, was man noch zu erwarten hat. Als ich vor und nach der OP schlecht oder gar nicht schlief, habe ich schon überlegt: Was hättest du anders machen können? Aber ich darf mich nicht beschweren, es gibt noch genügend Momente, die mich sagen lassen: Es ist aber schön mit dem Leben.

Vor zehn Jahren sagten Sie im kicker-Interview zu Ihrem 70. Geburtstag, Angst vor dem Älterwerden hätten Sie nicht, unangenehm sei allein die Ungewissheit, wie die letzte Zeit vor dem Tod verlaufe. Wie ist da heute Ihre Einstellung?

Wir wissen, dass wir alle das Zeitliche segnen müssen. Das Wann ist mir da nicht so wichtig, aber das Wie. Wenn ich sehe, wie viele große Persönlichkeiten, die der Welt viel gegeben haben, nicht mal 50 Jahre alt wurden, dann hatte ich Glück ohne Ende. Ich meine da nicht Leute aus dem Fußball, die 50 000 Zuschauern Freude, aber auch Ärger bereitet haben. Drei Momente sind entscheidend für das Wohlbefinden: von unheilbaren Krankheiten verschont zu bleiben sowie ein geordnetes Privat- plus ein erfülltes Berufsleben. Unter diesen Voraussetzungen war ich fast ein komplettes Glücksschwein.

Setzen Sie sich mit dem Tod auseinander?

Als mir gesagt wurde, die Hals-OP sei dringend, und ich drei Tage später unter dem Messer lag, habe ich auch an den Tod oder eine Querschnittslähmung gedacht und mich damit intensiver beschäftigt. Ich mache es auch sonst natürlich mehr als früher, weil ich weiß, dass die Zeit, die noch bleibt, geringer wird. Angst oder Panik kommt deswegen nicht auf.

Sie werden als ein Mann mit Humor, Selbstironie und Sarkasmus charakterisiert. Sind Sie einverstanden?

Mit Humor bin ich einverstanden. Selbstironie hat auch damit zu tun, dass man sich selbst nicht überschätzt. In langen Phasen meiner Jugend und meines mittleren Alters hatte ich eher Komplexe als übermäßiges Selbstvertrauen. Da habe ich mich möglicherweise mit meiner Art des Auftretens versteckt. Sarkasmus ist mir total fremd.

Mangelnde Selbstsicherheit ist im Trainerberuf aber schwierig. Wie haben Sie es geschafft, so viele Pflichtspiele zu überstehen?

So schlimm kann es mit dem Trainerberuf dann doch nicht gewesen sein, ich habe mich gut gehalten und früh die Einstellung gefunden, dass mein Beruf zwar ziemlich wichtig ist für das Hobby vieler Menschen, dass es aber deutlich Wichtigeres gibt. Deshalb habe ich mich in der Coaching Zone auch ganz selten emotional so gegeben wie einige meiner Trainerkollegen. Die wenigsten Niederlagen haben mich negativ überrascht, weil die Erwartungen bei mir realistischer waren als in meinem Umfeld. Am nächsten Tag war ich wieder bei der Tagesordnung.

Ist diese Haltung Charakter- oder Trainingssache?

Wahrscheinlich beides, mit dem Vorrang der Gene. Jürgen Klopp hat fast einmal einen Linienrichter aufgefressen, da habe ich ihm - wir haben seltenen, aber respektvollen Kontakt - gesagt: Jürgen, es gibt kein Fußballspiel der Welt, das einen Herzinfarkt rechtfertigt. Dann ist es auch Lernen durch Erfahrung. In meinem zweiten Jahr in Jena spielten wir als Spitzenmannschaft im Pokal gegen Rostock, Hin- und Rückspiel. Zu Hause gewinnen wir souverän 4:1, auswärts stand es bis kurz vor Schluss 0:0, am Ende 0:3, wir flogen raus. Da wollte ich mich unter der Bank eingraben. Man muss schnell im Leistungsfußball realisieren, was dieser Fußball alles ohne dein Verschulden parat hat. Ein junger, aber schon gestandener, erfolgreicher Trainer wie Julian Nagelsmann sollte die Einflussmöglichkeiten eines Trainers nicht überschätzen, weil er sonst nicht nur seiner Mannschaft, sondern auch sich selbst permanent Vorwürfe macht. Es gibt auch Dinge auf dem Platzt, die eine nicht planbare Eigendynamik entwickeln. Jürgen Klopp haben die Niederlagen in seiner Anfangszeit zum Trainer gemacht, als er zweimal mit Mainz fast aufgestiegen war und sehr unglücklich minimal scheiterte. In Dortmund baute er über drei Jahre eine Spitzenmannschaft, wurde zweimal Meister und stand in der Winterpause 2014/15 plötzlich punktgleich mit dem Letzten Freiburg auf Platz 17. Eine solche Negativerfahrung mit allen Zweifeln und dem Sympathieverlust im Umfeld fehlt Julian noch. Erst wenn du diese Scheiße mitgemacht hast, bist du mit deiner Trainer- ausbildung fertig.

Es geht um Erfahrung?

Ja. Erfahrung können junge Trainer aber noch nicht haben, also kann daraus auch kein Vorwurf konstruiert werden. Aber sie ist unschätzbar; und überheblich ist der, der das leugnet.

Ich, der angeblich so konsequente Trainer, war als Spieler ein faules Schwein.

Hans Meyer 

Wie verbringen Sie heute Ihre Tage?

Ich bin vor meiner Operation mit dem E-Bike pro Woche zwischen 80 und 250 Kilometer durch die schöne Gegend rund um Nürnberg gefahren und zwei- bis viermal pro Woche im Hallen- oder Freibad 1000 Meter Rücken geschwommen. Dazu kommt noch ein moderates Kraftprogramm zweimal pro Woche. Ich, der angeblich so konsequente Trainer, war als Spieler ein faules Schwein; ich bin nicht gerne gelaufen. Vom Umfang trainiere ich heute mehr als in meiner Spieler-Zeit. Eine knappe Stunde mache ich Homebanking am Computer, außerdem erledige ich meine Korrespondenz, unter anderem als Präsidiumsmitglied bei der Borussia in Mönchengladbach. Zeitunglesen gehört dazu, das Treffen mit Sportlern und Nichtsportlern im Café, Theaterbesuche oder sonstige Aktivitäten in der Kulturszene, in der meine Partnerin tätig ist. Ich verfolge die Entwicklungen in unserer Gesellschaft und in der Welt. Vor meinem Tod habe ich keine Angst, aber davor, wie die Menschheit in ihrer Existenz bedroht ist. Reichlich 12 000 Atomsprengköpfe, parallel dazu eine verrückte, offensichtlich unlösbare politische Konfrontation in der Weltpolitik, ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine, machen mir Angst. Mithilfe von bewusster Verdrängung gibt es dennoch genügend schöne Momente in meinem Leben.

Welche Rolle spielt da der Fußball noch?

Seit zehn Jahren mache ich bei der Borussia mit und bin da auch Lernender gewesen, weil die Funktionäre für mich früher nicht objektiv zu werten waren, sondern als Klugscheißer rüberkamen, die mir zum größten Teil unbrauchbare Ratschläge geben wollten. Dieses Bild habe ich korrigiert, weil ich begriffen habe, dass sich viele Ehrenamtliche aus Unwissenheit teils fadenscheinige Berater holen. Meine Achtung vor den verantwortlichen Leitungskollegen in Gladbach ist von Jahr zu Jahr gestiegen. Im Nachhinein bin ich froh, dass ich bei der Borussia zugesagt habe. Die Aufgabe hat mir viel Spaß bereitet und zusätzliche Abwechslung in mein Rentnerdasein gebracht.

Wie nehmen Sie in dieser Rolle Einfluss?

Bei vielleicht 15 bis 20 wichtigen Entscheidungen in zehn Jahren, wo es um Trainer oder Spieler ging, habe ich meine Meinung natürlich eingebracht, in den entscheidenden Sitzungen. Zum Glück für den Verein ist sie hin und wieder auch negiert worden. Die unmittelbare Einflussnahme auf die täglichen Entscheidungen ist eher gering. Das hatte aber auch damit zu tun, dass die Hauptverantwortlichen für unser Profiteam in den letzten zehn Jahren mit ihren fachlichen und menschlichen Qualitäten so erfolgreich gearbeitet haben. Mit unseren Trainern kam es zu regelmäßigen fachlichen Gesprächen. Und auch zu Max Eberl bestand ein vertrauensvolles, professionelles Verhältnis.

Eberl, Borussias ehemaliger Sportdirektor, sagte neulich, er habe vier Monate kämpfen müssen, um aus seinem Vertrag zu kommen, weil die Borussen-Verantwortlichen nicht verstanden hätten, wie es ihm ging. Was lief da schief?

Die Art der Trennung und die Missverständnisse passten nicht zu dieser erfolgreichen Zusammenarbeit. Sein Name bleibt unzertrennlich mit der bewundernswerten Entwicklung unserer Borussia im letzten Jahrzehnt verbunden. Ich war sehr froh, dass Max sagte, es gehe für ihn weiter. Hinter seiner Leistung stand harte Arbeit, aber er hatte auch gute Bedingungen in und für sein Team. Dieser Verein und Max Eberl waren ungewöhnlich lange eine sehr gute, leistungsfähige und leistungsbereite Einheit.

Sehen Sie Ihre persönliche Aufgabe bei der Borussia mehr aus Sicht des Trainers oder des Vereins?

Das kann man nicht völlig isoliert betrachten. Natürlich sehe ich vieles aus der Sicht des Trainers, aber auch das harte Ringen um die finanziellen Bedingungen, das letztlich für die Trainerarbeit Voraussetzungen schafft, verdient Beachtung und Anerkennung. Und da kommt die Borussia mit ihrer sauberen, tollen Arbeit an Grenzen.

Hans Meyer

Live dabei: Hans Meyer im Trainingslager von Borussia Mönchengladbach. IMAGO/Kirchner-Media

Wie gingen Sie damit um, als der Trainer Marco Rose von seiner Klausel Gebrauch machte und vorzeitig zum BVB wechselte? Hat er die Borussia und seine Mannschaft nicht im Stich gelassen? Ist der Verein nicht immer der Dumme, weil er bei Entlassungen auch noch eine satte Abfindung zahlen muss?

Kein Trainer sollte sich im Vergleich zum Bestand eines Vereins für wichtiger nehmen, als er ist. Die Position des Trainers ist aber eine andere als die des Fans mit Herzblut, weil er nach drei Niederlagen auch entlassen werden kann. Als ich nach Nürnberg kam, wusste ich übrigens wenig vom Club … (denkt kurz nach, grinst) Moment! Jahre nach meiner ersten Zeit in Jena in den 1970er Jahren erfuhr ich, dass ich bei Carl Zeiss einen Spitznamen hatte.

Welchen?

Der modische Wöhrl.

In Anlehnung an das Modehaus hier in Nürnberg?

Ja. Wenn ich Bilder von damals sehe, verstehe ich die Jungs: Ich hatte kein Gespür für Kleidung. Mit meiner mangelnden Allgemeinbildung kannte ich nicht einmal Wöhrl. Rund 30 Jahre später unterschrieb ich beim Club. Als wir uns trennten, war es ein für den Fußballbetrieb völlig normaler Abschied. Dass ich damals auf meine Entlassung ähnlich einseitig reagiert habe wie unsere Fans auf Marco Roses Entschluss, eine Vertragsklausel aus egoistischen Gründen zu nutzen, kann man mir doch auch nicht übel nehmen. Geblieben bin ich in Nürnberg, weil ich gerne in dieser Stadt bin. Die Zeit beim Club …

… mit dem DFB-Pokal-Sieg 2007 …

… habe ich genossen und hätte es als Bewohner dieser Stadt liebend gerne, wenn wir irgendwann wieder in der Bundesliga spielen würden. In sieben von elf Entlassungen wollte ich lieber bleiben, habe aber - das stimmt - stets eine Abfindung bekommen. Doch Egoismen gibt es aufseiten des Vereins wie des Trainers.

Sollten Vereine Ausstiegsklauseln in Trainerverträgen generell ablehnen?

Dann hätte die Borussia Rose nicht bekommen. Eberl hatte sich gut informiert und klare Vorstellungen über eine Zusammenarbeit im Interesse unseres Vereins. Außerdem waren die für Rose fixierten fünf Millionen Euro an Ablöse für einen Trainer ein stolzer Betrag und für Max zu diesem Zeitpunkt ein sehr geringes Risiko. Und anderthalb Jahre lief es optimal, bis Dortmund anklopfte mit einem viel besseren Angebot. Finanziell, perspektivisch und mit einer entsprechenden Vertragslänge. Außerdem wurde Rose nicht einmal vertragsbrüchig. Ist er also ein verdammenswerter Egoist in einer Gesellschaft, in der so viele nur an sich denken? Das scheint mir zu einfach.

Ein Trainer kann sich also Herzblut für einen Verein nicht leisten?

Zu 80 Prozent stimmt diese These. Wenn Trainer nach ein paar Siegen im neuen Klub auf das Wappen deuten, ist das populistisch. Christian Streich in Freiburg, Thomas Schaaf in Bremen, Urs Fischer bei Union Berlin hängen mehr am Verein, auch ich habe für Carl Zeiss Jena nach über 20 Jahren als Spieler und Trainer anders empfunden. Und Uwe Kamps wird auf Borussia anders zurückblicken als Max Kruse. Das sind doch gewachsene Empfindungen durch langjährige erfolgreiche Arbeit. Aber Angebot und Nachfrage sind die Marktwirtschaft, auch im Fußball, obwohl da in der Kabine und auf dem Platz noch ein paar andere Dinge wesentlich sind, die menschlichen Momente. Aber ein Grillabend oder eine Bootsfahrt reichen da heute nicht mehr.

Als Ihren Lieblingsspieler nannten Sie im Mai dieses Jahres im Rückblick auf den DFB-Pokal-Sieg mit dem Club vor 15 Jahren Ivan Saenko. Haben Sie noch Kontakt zu diesem russischen Spieler - gerade in der heutigen Zeit?

Heute nicht mehr. Das hat nichts mit Putin zu tun, ich weiß aus persönlichen Gesprächen, wie Ivan über Krieg gedacht hat. Aber drei Monate nach meiner Entlassung rief er an und lud mich zu seinem Lieblingsitaliener ein. Ich sagte: Ivan, dein Trainer hat sein Leben lang gerne gegessen, ich bin dabei. Nach einer gewissen Zeit sagte er beim Essen zu mir: Wenn Sie nicht nach Nürnberg gekommen wären, hätte ich nie die Bundesliga und die russische Nationalmannschaft gesehen; mein Vater, auch ein Trainer, sagt, ohne den symbolischen Tritt in den Hintern bin ich nicht in der Lage, etwas zu leisten. Kontakt habe ich heute noch zu Tomas Galasek. Zum Geburtstag gibt es ein paar Anrufe von Spielern. Doch Freundschaften fürs Leben entstanden nicht, so eng war meine Beziehung zu ihnen nicht.

Sie waren 2007 Trainer der Autorennationalmannschaft. Wie gehen Literaten mit dem Fußball um?

Durch alle Schichten der Bevölkerung, auch durch die, die ihren Kopf mehr gebrauchen oder eher weniger, zieht es sich wie ein roter Faden: Sie wären es alle gerne geworden …

… Fußball-Profi?

Ja, alle.

Gab es in dieser Auswahl Autoren mit Fußballtalent?

Solche gab es auch. Moritz Rinke hatte das Niveau für die 3. Liga. Albert Ostermaier ist fußballverrückt ohne Ende. Mir hat diese Tätigkeit Spaß gemacht, wir wurden Vize-Europameister in Italien.

Da wir gerade beim Schreiben sind: Wann erscheint Ihre Autobiografie?

Eine Autobiografie kommt nicht infrage. So wichtig ist Hans Meyer nicht.

Der Umgang in England ist ehrlicher.

Hans Meyer über seine Vorliebe für den englischen Fußball

Wie oft schauen Sie noch Fußball pro Woche?

Ich sehe die Champions League. Viel internationalen Fußball und da die Engländer. Sie legen Wert auf die Dinge, die schon immer zum Fußball gehörten und ihn immer begleiten sollten. Wie selten bleiben dort Spieler liegen und im Gegensatz dazu bei uns, wo du sagst: Der hat doch gar nichts. Der Umgang in England ist ehrlicher. Das Publikum dort ist fachlich anders geschult.

Vor zehn Jahren kritisierten Sie eine Amerikanisierung des Fußballs, mehr die Show als das reine Spiel. Was sagen Sie da heute?

Seit 2006 hat sich bei uns einiges geändert, Fußball ist Spektakel, Show, Event. Und von den Medien werden oft Spieler hofiert, die weit weg sind von einer professionellen Einstellung. Wenn ich Robert Lewandowski sehe, der sich Gedanken macht, wie er mit professioneller Lebensführung und Ernährung seine Leistungsfähigkeit verlängern kann, und dann eine Menge anderer Spieler, die deutlich weniger bringen, als sie mit ihrem begnadeten Talent leisten könnten, mögen diese Spieler für die Presse und für gewisse Teile der Öffentlichkeit zwar lustig sein, ich als Trainer hatte mit ihnen immer meine Probleme.

Wann stand für Sie fest, dass der Fußball Ihr Beruf werden sollte?

Als einer der Ersten war ich in einem Schul- experiment der früheren DDR. Die Theoretiker, also Abiturienten, sollten einen Bezug zur Arbeit bekommen und während der Oberschulzeit einen Tag pro Woche einen Beruf erlernen, bei mir war es Betriebsschlosser. Da musste ich zum Beispiel Gewinde schneiden, feilen, schweißen und schmieden wie ein normaler Lehrling. Als Schlosser habe ich zum Glück für die DDR-Industrie nie gearbeitet. Ich konnte nur Sport studieren, weil meine Interessenslage so war. Für den Nobelpreis in Atomphysik reichte mein Kopf nicht, ich musste aber ein Zweitfach wählen. Ich nahm Geschichte, weil ich da zufällig die Note 2 hatte. Am Ende meines Studiums hätte ich auch nach Mecklenburg geschickt werden können, um dort Dorfschulmeister zu werden. Meine Leistungssportkarriere hat mich und viele Kinder davor bewahrt. Über meine Nebenrolle in Jenas Meistermannschaft nahm ich Buschners Angebot, mit 27,5 Jahren sein Assistent zu werden, an. Ein Jahr später schlug mich Buschner vor, als Reichsverweser sein glanzvolles Werk zu übernehmen.

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Überlegen Sie manchmal, wie Ihr Leben ohne Mauerfall verlaufen wäre?

Als es passierte, hielt ich den Mauerfall für unmöglich. Ich war total unvorbereitet. Und nach allem, was ich in der sogenannten Freiheit erlebt habe, bin ich nicht so überzeugt wie andere, dass alles, was in der DDR einmal gewollt wurde, so falsch war.

Was meinen Sie?

Dass man in den lebensnotwendigen Dingen mehr an die breite Masse der Menschen dachte, beim Essen, Kleiden, Wohnen, bei der Krankenversorgung, bei der Schulbildung. Eben bei den sozialen Menschenrechten. Jedoch alles eben ohne Freiheit.

Ohne die Freiheit, das wohl höchste Gut neben Frieden.

Das sicher.

War der Fußball nicht nur Ihr Beruf, sondern auch Ihr Leben?

Mein Leben war der Fußball nicht, aber ein sehr wichtiger und befriedigender Bestandteil, sonst hätte ich es nicht 40 Jahre lang gemacht. Mein Privatleben und meine Enkel haben aber eine deutlich größere Bedeutung für mich.

Was begeistert Sie, wenn Sie heute Fußball anschauen? Was nervt Sie?

An jedem Wochenende sehe ich in allen Ligen so viele Tore, Kombinationen, Kabinettstückchen, Freude, Begeisterung auf dem Platz und den Tribünen, dass ich als Fußballliebhaber schlecht von meinem Hobby lassen kann. Auf der anderen Seite analysieren wir alles, rütteln aber nicht an den Missständen. Jeder im Fußball Tätige, auch der Physiotherapeut, der weitaus mehr verdient als sein Kollege in der Klinik, die Trainer und die Spieler haben ein großartiges, manchmal perverses Auskommen, trotzdem schaffen wir es nicht, diesen Sport mit so vielen Emotionen in seiner Stärke und Wucht zu erhalten.

Was meinen Sie konkret?

Warum ist es nicht wie im Handball möglich, dass der Ball nach einem Pfiff liegen bleibt und es sofort eine Gelbe Karte gibt, wenn ihn ein Spieler nur ein paar Zentimeter bewegt? Im Handball werden die Regeln diszipliniert befolgt. Nehmen wir die Ellbogen beim Kopfball: Wir kriegen diese Fouls nicht in den Griff.

Andererseits haben Spieler stets die Hände jammernd im Gesicht, obwohl es keine Berührung gab.

Oder diese Heuchelei, dass ein Spieler wie ein Verbrecher behandelt wird, wenn er den Ball nicht gleich ins Aus spielt, weil ein Gegner am Boden liegt. Dabei wissen wir, dass von 20 nur zwei liegen bleiben müssten. Wir haben keine strenge Umsetzung unserer eigentlich vorhandenen Regeln im Fußball. Seit Jahren wollen wir die Rudelbildung verhindern, aber bei fast jedem Pfiff protestieren zehn, zwölf Spieler beim Schiedsrichter. Oder der Videobeweis: Zu viele Entscheidungen bleiben trotz Videobeweis im Bereich der Subjektivität. Ohne VAR sind wir besser gefahren. Was mich vor allem kaputt macht: Über ein Tor freue ich mich nicht mehr spontan, sondern warte erst zwei Minuten ab. Eine Katastrophe für den Fußball. Die Torkamera reicht. Den Videobeweis halte ich nach wie vor für ungemein fragwürdig, wie übrigens viele am Schreibtisch entstandene "Verbesserungen" im Fußball.

Werden Sie die demnächst startende WM verfolgen?

Aber natürlich. Über Umfragen, dass 50 Prozent der Bevölkerung nicht zuschauen wollen, lache ich kräftig. Auch nach Corona ließ das Interesse nicht, wie von Hellsehern erwartet, nach.

Was erwarten Sie von der deutschen Mannschaft?

Hansi Flick geht sehr realistisch, nicht spleenig ran, diese Art gefällt mir. Jogi Löw ließ 2010 in Südafrika den besten Fußball spielen, den je eine deutsche Nationalmannschaft gespielt hat. Mit Glück und Teamgeist gelang 2014 der Titelgewinn. Im Vergleich zu 2014 haben wir aktuell fußballerisch keine schlechtere Mannschaft, eher eine vielseitigere in Ballbesitz. Aber seit Jahren stimmt die Balance zwischen defensiv denkenden und offensiven Spielern nicht. Der einzige überdurchschnittliche Verteidiger momentan ist Antonio Rüdiger. Und wir haben keinen richtigen Sechser. Joshua Kimmich könnte auf dieser Position ein Weltklassemann werden, wenn er sich strategisch vor allem mehr um den Rückraum kümmern würde.

Schauen Sie die WM als Fan mit Emotionen?

Ich bin nicht so Deutschland-affin, um nicht akzeptieren zu können, dass wir von der Balance her keine Weltklassemannschaft haben. Vom Titel würde ich nicht so offensiv sprechen.

Wäre ein deutscher WM-Sieg für Sie ein zusätzliches Weihnachtsgeschenk?

Ich würde mich riesig freuen. Aber so gut besetzt ist das Team nicht, um von Anfang an zu sagen, der Titel sei absolut realistisch.

Interview: Karlheinz Wild

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